Ich schwitze wie die Hölle. Sitz’ da in dem geliehenen Campingstuhl, breitbeinig, nach vorn gebeugt, zu den Dingen, die ich vor mir auf dem Gehweg verteilt habe: Block, Pinsel, Buntstifte, Bleistifte, Wasserbecher, Wasserflasche, Wasserfarben, Ratzefummel, Küchenrolle. All das da so liegen zu sehen bereitet mir ein Gefühl der Genugtuung. Es ist so ordentlich. Links neben und auch hinter mir erhebt sich eine begrünte Anhöhe.
In den Büschen summt was.
Rechts führt die Straße hinab zum Hafenbecken. Vor mir liegt eine große, leere Fläche, eine unbebaute Ecke, eingezäunt. Reifenspuren im Sand bezeugen, dass das Grundstück vor nicht allzu langer Zeit in irgendeiner Art und Weise bearbeitet worden sein musste. Ich weiß nicht, was da gestanden hat, vermutlich ein weiterer Speicher von kolossaler Größe. Vielleicht auch nur in den vergangenen Jahrzehnten heruntergekommene Anbauten. Ein Banner am Gebäude weiter hinten kündigt eine Bebauung an, Appartements. Versteh’ ich, die Lage ist traumhaft. Von den höheren Wohnungen aus wird man einen sehr schönen Blick auf den Hafen und die Elbwiesen dahinter haben; ein Grün in zig Schattierungen, Bäume und Büsche, die wie Plüschkugeln auf einem Teppich herumliegen, dazwischen das in Wellen gelegte Band der Elbe, am Horizont – filigran und immer in Bewegung – Windräder.
Ich kann es mir deshalb so gut vorstellen, weil ich an den ersten beiden Tagen meines Aufenthalts nur das gesehen und gezeichnet habe, von der Terrasse des Schlosses aus. Mit den Daumen und Zeigefingern beider Hände hatte ich ein Rechteck geformt, fachmännisch hindurchgesehen und irgendwie meinen Bildausschnitt festgelegt. Im Hintergrund waren die anderen zu hören gewesen. Sie hatten sich leise unterhalten, zu sich selbst gesprochen, geschnauft, mit Papieren hantiert, schweigend gemalt.
Heute bin ich allein.
Ich möchte die Mauer am hinteren Ende der Brachfläche malen, den angrenzenden Schuppen, einen Turm, das verlassene Storchennest darauf, die dicht gedrängten Birken dazwischen, und weiter hinten das beerige Rot einer Blutbuche. Vielleicht sind es auch gar keine Birken. Die Blätter sind grün und klein, die Stämme dünn und hell. Ich habe mich den ganzen Morgen darauf gefreut, jetzt hier sitzen zu dürfen, trotz Mittagssonne und Sommerhitze. Ich habe eine wirklich sehr kurze Jeans angezogen, ein T-Shirt und meine Fahrradkappe, die aus England, wollen, mit kurzem Schirmchen. Jede Stelle meiner Haut ist eingeschmiert, Lichtschutzfaktor 50+, für Babys und Verrückte. Ist mir egal. Ich will brennen, aber keinen Krebs kriegen.
Mir ist eher so, als trüge ich einen Anzug aus sehr dünnem Kunststoff, eine zweite Haut sozusagen. Kein schlechtes Gefühl. Die Wahrheit ist, dass ich mich diesem Gefühl zwischen jedem Pinselstrich ausgiebig hingebe, indem ich mich zurücklehne, die Augen schließe, und warte, bis sich mein Körper von selbst erneut bewegt, aus dem Dunkelblau des Stuhls erhebt, vorbeugt, langsam, als müsse er ziemlich viele Druckknöpfe lösen, bis er den Arm hebt, zum Pinsel greift, den Kopf hebt, die Augen zusammenkneift, dann den Schweiß von der Oberlippe leckt, bis mein Kopf oder dessen Inhalt, irgendwas in mir jedenfalls, die Szene begreift, die, die ich male, und beide, Kopf und Körper wieder zwei, drei Flächen auf’s Papier setzen.
Es geht immer erst einmal um Flächen, Farbflächen; mit den hellsten fange ich an. Ich habe helle Sandhügel gesetzt, mit schmutzigem, stark verdünntem Gelb. Dann habe ich Mauerwerk gesetzt, mit schmutzigem, stark verdünntem Orange. Dann die Blätter, dann den Himmel, schließlich die Schatten, richtig schön dunkel, aber nicht mit Schwarz, sondern gemischt aus allem Möglichen, aus Blau, Grün und Rot. Die wichtigste Farbe in einem Aquarellkasten aber ist: der Palettendreck. „Putz’ nie deinen Kasten, Lydia, lass’ alles so wie es ist, du brauchst den Dreck für’s Mischen.“, hatte Annett gesagt. Und dabei gelacht. Und wohl sofort gewusst, dass ich ihr nicht glaubte. Gern würde ich ihr jetzt von meinen Farben erzählen, von den fantastischen Farben, die so leuchten und sich auf dem Papier verändern, und vom Palettendreck, der lebendig zu sein scheint, weil er sich auch verändert, mit jedem Eintauchen meines Pinsels, mit jeder Minute, die vergeht, mit jedem Blick, mit jedem Gedanken, mit jedem Gefühl.
Kein bisher gefühltes Gefühl lässt sich mit dem vergleichen, das mich gerade flutet. Ich finde einfach kein Bild in meinen Erinnerungen, mit dem sich der Scheiß hier deckt, nicht einmal so halb, so ein bisschen wie damals und dort. Da ist kein Damals. Da ist kein Dort. Da ist nur ein Jetzt. Und ein Hier. Und plötzlich finde ich es sehr schlimm, dass ich allein bin, dass ich dieses Gefühl nicht teilen kann. Ich bin mir sicher, dass ich es später nicht beschreiben können würde, weil es unbeschreibbar ist.
Soll ich aufstehen, alles zusammenklauben, den Farbkasten trotz der noch feuchten Näpfchen schließen, das Malwasser in die Büsche kippen, den Campingstuhl zusammenzerren und in die Tasche stopfen, alles über die Schulter werfen und rennen, über’s Kopfsteinpflaster, den Weg hinauf in den Ort, dorthin, wo ich die anderen und Annett vermute? Könnte ich, klar. Und dann? Dann ist es vielleicht weg. Das wäre schlimmer. Also bleibe ich sitzen, starre auf das Bild vor mir am Boden, auf das trübe Mischwasser, auf die Details, die ich weggelassen habe, und auf die, die ich herbeigezaubert habe. Das ist erlaubt beim Aquarellmalen. Es geht nicht darum, zu malen, was wirklich da ist, sondern, was man sieht. Und ich sehe so viel, dass es für mehrere Bilder reicht. Also trenne ich das erste vorsichtig vom Block – und beginne von Neuem. Hellste Flächen. Helle Flächen. Dunklere Flächen. Schatten. Details. Ich variiere bei der Wahl der Pinsel. Ich wage es, mit den Buntstiften in die Farbflächen zu gehen. Ich mische mutiger und ich male sogar einen Storch, der nicht da ist. Das hätte ich lassen sollen, er ist zu groß geraten, aber wen stört es? Mich nicht.
Und dann bemerke ich, dass ich gar nicht allein bin. Ständig spazieren Menschen an mir vorbei. Zwei Mädchen im Grundschulalter streiten sich ein bisschen darüber, welches von ihnen welches meiner Bilder schöner findet. Jedesmal, wenn eines der Mädchen zu einer Entscheidung findet, sagt das jeweils andere, dass es das ausgewählte Bild eigentlich auch schöner finde. So geht das hin und her, auch dann noch, als beide weghopsen. Sie hopsen wirklich. Ihre Mütter schlendern hintendrein. Bei mir angekommen, finden sie alles sehr schön. Finde ich auch. Wir gackern. Sie tragen weiße Piercings in den Brauen. Eine Frau Anfang 50 trägt ein neongelbes Kleid mit neonrosafarbenen Schmetterlingen darauf, ärmellos, ein Drama, aber sie trägt es, als hätte sie es extra für den Urlaub gekauft. Sie löst sich von der Hand ihres Begleiters, bleibt stehen, während er weitergeht und dabei betont unbeteiligt seine hellblaue Jeans am Gürtel hochzieht. Sie hingegen schaut auf meine Bilder, sagt nichts, nickt nur freundlich und hopst dann weiter. Schon wieder eine, die hopst. Ich rufe ihr ein Kompliment hinterher, dass ihr das Kleid ganz wunderbar stehe. Sie dreht sich einmal um ihre Achse. Ich schwöre.
Ein Kanute in Trombosestrümpfen bleibt auch neben mir stehen. Bestimmt 70, in Sportsachen, mit betörend verschmitztem Grinsen. Sie würden die komplette Elbe hochfahren, erzählt er mir, ohne, dass ich fragen muss, er sei aber aus gesundheitlichen Gründen erst in Magdeburg zugestiegen. Ich lobe die Elbe. Er lobt die Donau. Da sei mehr zu sehen, nicht nur Deiche. Als er mich fragt, ob ich noch Schülerin sei, bekomme ich einen mittelschweren Lachkrampf. Nein, glücklicherweise nicht, antworte ich ihm, denn dann wäre ich nur halb so mutig. Ob er das versteht, ist fraglich, dass er mich nett findet, eindeutig. Als er dann doch endlich geht, beginne ich ein neues Bild.
Inzwischen ist Nachmittag, die Sonne gewandert, aber immer noch bei mir. Dass ich schwitze, stört mich nicht. Ich esse das Gemüse, das mir Annett in der Pension eingepackt hat: Fenchel, Gurke, Möhren. Gern würde ich mich von außen sehen, wie ich da sitze, im Kutschersitz, mit Möhre und Pinsel in den Händen, klecksend, kauend, grinsend. Ich glaube, wer mich so sieht, sieht mich wirklich. Ich fühle mich wirklich. Ich bin da. Ich bin ich. Bevor ich mein viertes Bild fertig malen kann, ziehen plötzlich Wolken auf. Ich nehme Aufbruchstimmung wahr, auch wenn nicht viele Menschen unterwegs sind. Sie gehen schneller. Und dann weht ein Satz zu mir herüber.
Ein Mädchen an der Hand einer älteren Frau sieht mich beim Vorbeihasten. „Oma guck’, der Junge malt.“ ruft es und fliegt davon. Ich schiebe mir die Kappe aus der Stirn, lehne mich im Campingstuhl zurück, dieses Mal mit weit geöffneten Augen, weil die Sonne mich nicht blendet. Ich sehe in die Wolken und weiß plötzlich, dass ich nicht viele Worte brauchen werde, um Annett wissen zu lassen, welches Gefühl ich heute gefühlt habe.
Ich werde sie einfach fest umarmen.
<3 <3 <3