Sie sitzt am Schreibtisch. Mit feinem Strich zeichnet sie zwei Spalten einer Tabelle auf das weiße Blatt Papier, sorgfältig und doch: ungehalten. In die linke Spalte schreibt sie: Seelenheil, Aufmerksamkeit, Liebe, Kuchengeruch. In die rechte: Ruhe, Stille, Freiheit, Kühle. Das Ü und das H von Kühle verschwimmen, als eine Träne einen Krater der Sorge mitten in das Wort legt. Helma zieht Rotz hoch. Die Taschentücherbox ist so leer wie ihr Gehirn. Toilettenpapier wird es auch tun, denkt sie und schlurft ins Bad. Im Flur hört sie, wie der Bleistift vom Schreibtisch rollt.
008
Sie wünscht sich eine Familie. Eine, die sagt: „Ist nicht so schlimm.“. Eine, die fragt: „Hast du Hunger?“. Eine, die schweigt, wenn alles brennt. Eine, die lacht, wenn nichts mehr geht. Eine, die festhält. Eine, die mitwächst. Eine, die Geschichten erzählt, wahre und ausgedachte. Eine, die niemals droht. Eine, die immer hofft. Eine, die lässt. Helma wünscht sich eine Familie. Als Kind. Irgendwann.
007
Nicht, dass ich getrunken hätte, aber ich schlief so schlecht, dass ich mich frage, warum ich nicht einfach durchgemacht habe. Dann ginge es mir besser. ‚Schlecht geschlafen‘ trifft es nicht genau, gebe ich zu. Die Nacht war sehr bereichernd. Immerhin weiß ich jetzt, warum er geht, und ich bleibe. Ich kenne die Gründe für den Verlust. Ich weiß, wer mir Böses wünscht, wann wer mit wem in einem Garten sitzt und über mich lacht. Ich weiß nun ganz viel – tatsächlich aber nichts. Hirngespinste, Wahnvorstellungen, Albträume. Könnte ich einfach zur freundlichen Hausärztin gehen und sie bitten, mir etwas zu geben, damit das aufhört? Vielleicht etwas zum Trinken, wie Tropfen, die man abzählt und verdünnt. Und dann verschlingt. Und wartet. Bis alles verklingt.
006
Auf dem Bett gegenüber dem großen Kleiderschrank liegt das Tier, fest zusammengerollt, leise seufzend, das schwarze Fell wie Lack. Ich stehe eine Weile im Türrahmen und zögere den Moment hinaus, in dem ich mich an das schlafende Tier anschleichen und es mit der Stirn berühren, und dieses verwirrt gurrend und blinzelnd aufschrecken würde. Die Zeit hört auf zu atmen. Ich schleiche. Helma schleicht. Der kleine Körper bebt. Das Licht ist braun und gelb. Und weiß. Quietschende Reifen auf der Straße vor dem Haus zerreißen jäh die Schlafzimmerstille und verhindern das oft ausgeübte Ritual. Das Tier ist wach.
005
„Sie hasst Menschen.“ – Toni senkt den Arm und hebt den Blick. Es ist nicht angekommen. „Was?“, fragt sie den jungen Mann neben ihr. Der tut gleichgültig, schraubt die Lippen zusammen, atmet hörbar durch die Nase ein und wiederholt sich: „Sie hasst Menschen.“. „Wer hasst Menschen?“, „Das Mädchen, das Sie suchen“. Toni schluckt, lässt ihre Brauen tanzen. Helma, er kann nur sie meinen! Doch: Helma gibt es nicht.